Ausstellungsrundgang: Urban Creatures 2006, Pori Kunstmuseum, Pori, Finnland (Katalog)

Semiotics of a Migrant Man Located in Germany


Doris Berger

Prolog: Wir sehen das Bild eines Mannes, der vor einer Häuserwand steht. Links von ihm ist ein Teil eines vergitterten Souterrain-Fensters zu sehen. Der Mann trägt einen dunklen Anzug, ein helles Hemd und ist sorgfältig rasiert. Die Hosenbeine des Anzuges sind jedoch ein wenig zu kurz für den Körper des Trägers. In der linken Hand hält der Mann einen hellblauen Koffer, und mit der rechten Hand streckt er eine rote aufgeblühte Rose den BetrachterInnen entgegen. Seine Mimik ist ernst und zurückhaltend.

In Shahram Entekhabis Videoarbeit "Flower" (2004) ist dieses Bild einerseits eine 210 x 300 cm große Malerei und andererseits eine Projektionsfläche im mehrdeutigen Sinne. Formal gesehen wird auf das gemalte Bild dessen Hintergrund, die Häuserwand, als eine Straßenszene mit vorbeilaufenden Passanten projiziert. Die Malerei beginnt durch die Videoprojektion zu leuchten. Damit geht eine inhaltliche Wertung einher, denn die gemalte Figur ist nicht auf dem Videobild zu sehen und bekommt dadurch im Gesamteindruck eine andere Materialität. Sie passt weder in die leuchtende Wirkung der Malerei noch gliedert sie sich in die vorbeigehenden Menschen ein. Die Figur des Mannes ist dadurch anwesend und abwesend zugleich. Aufgrund dieses medialen Dazwischen wird ein besonderes Augenmerk auf die Figur gelegt. Mit meinem kulturellen Hintergrund interpretiere ich die gemalte Figur als Bild eines Gastarbeiters, da die Bekleidung des Mannes in Deutschland diese Assoziation hervorruft. Aufgrund der Bildattribute Rose und Koffer sowie der Isolation im bildlichen Zusammenhang könnte man in diesem Bild einen höflichen aber entwurzelten Gastarbeiter sehen. Auch wenn heute diese Begrifflichkeit durch andere ersetzt wurde, scheint mir der Gastarbeiter-Diskurs wichtig, da er die Rolle des Mannes mit einer bestimmten historischen Zeit in Deutschland verbindet. Zwischen 1955 und 1973 wurden in Deutschland Millionen Arbeitskräfte unter anderem aus Italien, der Türkei, Griechenland oder Portugal für Fabrikarbeit angeheuert. Die Industrialisierung und das ‚deutsche Wirtschaftswunder’ sind ohne Gastarbeiter nicht zu denken. Ihre Migration war damals jedoch eine temporär verstandene Arbeitsmigration. Die Männer kamen zunächst zum Geldverdienen ohne Familienangehörige nach Deutschland und fuhren so oft sie konnten in ihre Heimat zurück. Heute, wo die industrialisierte Fabrikarbeit auch in Deutschland entweder durch technologische Entwicklungen oder Abwanderung der Produktionsstandorte immer weiter wegrationalisiert wird und die sich ständig verringernde Auftragslage den Arbeitsmarkt ebenso negativ bestimmt, gibt es immer weniger Gastarbeiter, aber viele Migranten. Auch der Begriff verschwindet im täglichen und politisch korrekten Sprachgebrauch. Verkürzt zusammengefasst, spricht man heute angesichts gesellschaftspolitischer Prozesse wie Familienzusammenführung und Einbürgerung korrekterweise von z.B. türkisch- oder italienischstämmigen Deutschen.

Diese gesellschaftliche Entwicklung findet sich auch in der Arbeit des seit 1983 in Deutschland lebenden, iranischen Künstlers Shahram Entekhabi wieder. Im Jahre 2004 begann er mit der Videoarbeit “i?” eine Serie über die gedankliche und visuelle Figur des Migranten. "i?“ folgte strukturell einer Filmvorlage, die Entekhabi mit seiner Perspektive als Migrant verband. In seiner Videoarbeit "“3 seconds” (2004) legte er dann das visuelle Werkzeug, die Figur des eingangs beschriebenen Mannes, fest, die in folgenden Arbeiten in unterschiedlicher medialer Ausformung zu seinem Alter Ego werden soll. Die Videoprojektionsarbeiten “Kelvin Smith library” sowie “Walkout” (beide 2005) folgen dem medialen Vokabular von Malerei und projiziertem Hintergrund wie in “Flower”, wenngleich in jeder Arbeit das Verhältnis von Hintergrund und Figur anders ausformuliert ist. In den Videos “Rockefeller Boulevard”, “Road Movie” oder “Gold” (alle 2005) nimmt der Künstler sein Alter Ego als filmische Figur an. Er geht schnellen Schrittes durch das jeweilige Filmsetting, das einmal ein Fabrikgelände, eine Autostraße oder auch eine Wüste ist. In den Performance-Videos “Attenzione” und “Caution / Celevland” (beide 2005) wird das Gastarbeiter-Alter Ego aktiv und führt Raum schaffende bzw. Raum begrenzende Aktionen mit einem rot-weißem-Band durch, das man aus Absperrungen auf Baustellen kennt. Eine melancholische Note bekommen seine Handlungen in “Alcazar” von 2005.

In all diesen Arbeiten bleibt der Koffer als "Accessoire“ der Figur erhalten, wobei die Rose verschwindet. Der Koffer steht symbolisch für das Reisen, für den Transfer zwischen Kulturen sowie für ein Behältnis persönlicher Objekte, die darin Zeiten, Räume und Kulturen durchqueren können. Ähnlich wie bei Charlie Chaplin der Gehstock oder bei Jacques Tati der Regenschirm ist in Entekhabis Arbeiten der Koffer ein Objekt, das aufgrund seines Designs einer vergangenen Zeit zugeordnet werden kann. In diesem Sinne interpretiere ich den Koffer als charakterisierendes Zeichen der Figur. Entekhabis Alter Ego nimmt die Rolle eines gesellschaftlichen Außenseiters an, der durch sein Aussehen und seine Handlungen aus dem Rahmen pragmatischer und alltäglicher Abläufe fällt. Auch darin ist Entekhabis Figur mit den Alter Egos von Chaplin und Tati zu vergleichen, die durch ihre altmodische Kleidung und Accessoires visuell hervortreten und eine Differenz zum vorherrschenden gesellschaftlichen Umfeld markieren. Im Duden ist der Begriff Alter Ego als "das andere, das zweite Ich“ oder aber auch als "sehr vertrauter Freund“ definiert. In Film und Literatur wird dieser Begriff oft für eine zweite, angenommene Persönlichkeit verwendet, die meist mit anderen Eigenschaften als denen des "realen Ichs“ besetzt ist. Das Alter Ego als Gastarbeiter bietet Entekhabi die Möglichkeit, die Veränderungen der Arbeitswelt in Beziehung zu seinen Erfahrungen als Migrant in Deutschland zu setzen.

Die Entwicklung der Migration lässt sich jedoch nicht mehr an ein paar wenigen ethnischen Gruppen festmachen. Das gesellschaftliche Bild ist auch in Deutschland vielfältiger geworden und so auch die Vorurteile und Klischeevorstellungen über einzelne Kulturen. Dies reflektiert Entekhabi durch eine Ausdifferenzierung seiner Figur des Migranten, wofür er sein Alter Ego aufgibt. In den neueren Videoarbeiten “Miguel”, “Mehmet” und “Mladen”, oder auch in “Islamic Star” schlüpft der Künstler in jeweils unterschiedliche Rollen und Ethnien, die sich meist im städtischen Raum bewegen. Bereits die Vornamen im Titel verweisen auf unterschiedliche Herkünfte, die Shahram Entekhabi durch sein sich nun ständig veränderndes Outfit und Verhalten durchaus klischeehaft darstellt "Miguel“, "Mehmet“ und "Mladen“ sind drei Video-Porträts von Männern, in denen jeweils unterschiedliche, zum Teil selbst zerstörerische Handlungen inszeniert werden. "Mehmet“ könnte als kurdischer Mann interpretiert werden – mit Oberlippenbart, hellgrauem Anzug, Hemd und Wollweste. Er geht ein wenig hinkend mit einem zunächst undefinierbaren Objekt zu einer Straßenbahnhaltestelle. Je näher der Mann der Kamera kommt, desto genauer erkennt man das mitgebrachte Objekt, einen Kanister Benzin. So eine Szene ist durchaus befremdlich im Stadtraum, da es überall Tankstellen für leere Autotanks gibt. Der Mann bleibt stehen, so als ob er auf die Straßenbahn warten würde. Er blickt einmal um sich. Plötzlich öffnet er den Kanister. Die Kamera zoomt an Mehmet heran. Er beginnt, sich die Flüssigkeit über seinen Kopf und Körper zu gießen. Niemand reagiert. Ein Auto hupt. Der Wind weht. Schließlich zündet der Mann ein Streichholz an. Cut. Das Bild ist schwarz, und das Video ist zu Ende.

In der Videoarbeit "Mladen“ sieht man einen schwarzhaarigen Mann mit einem Schnurrbart, der seitlich des Mundes bis zum Kinn geformt ist. Die Haare sind nach hinten gegelt. Der Mann trägt ein weißes T-Shirt, eine schwarze Lederjacke und schwarze Hosen. In der Hand hält er ein aufgeklapptes Taschenmesser, mit dem er an seinen Fingernägeln herumspielt. Zunächst steht er an einer Straßenkreuzung nahe einem Restaurant mit schicker Bestuhlung in Berlin-Mitte. Dann steht er vor einer Posterwand, und ein anderes Mal lehnt er sich auf die Motorhaube eines Porsche-SUV’s. Er wirkt, als ob er Ausschau halten würde, wonach oder warum, wird nicht klar. Seine Gestik und Mimik weisen jedoch auf ein aggressives Verhalten hin. Die Arbeit "Mladen“ spielt mit der Vorstellung eines Kriminellen aus dem Balkan. Zu dieser ethnischen Annahme verhilft neben dem Aussehen des Mannes die Musik des Videos mit ineinander klingenden Balkan-Beats, zur sozialen Annahme sein Verhalten. Auch hier sieht oder spricht niemand den Mann an. In all den Videos wird nicht gesprochen. Der Ton ist entweder O-Ton der Straße oder eine die inhaltliche Aussage unterstützende Musik. Es finden keine Interaktionen statt, sondern verschiedene Beobachtungen.

Shahram Entekhabi eignet sich vielschichtige Zuschreibungen über ein tatsächliches oder angebliches "Anders-Sein“ durch die Verkörperung von unterschiedlichen Figuren in seinen Arbeiten an und macht diese durch Rollenspiele im öffentlichen Raum sichtbar. Er setzt dafür klischierte Vorstellungsbilder von Migranten ein, die verstärkt durch Medienbilder inhaltlich aufgeladen sind. Anhand der Kleidung, den Accessoires und Verhaltenscodes können sie entziffert werden. Aus der Perspektive der Inszenierung unterschiedlicher Identitäten, die medialen Vorbildern folgen, ist Entekhabis Arbeit strukturell mit Cindy Shermans Fotoserie "Untitled Filmstills“ (1977-80) zu vergleichen, in der die Künstlerin Rollenbilder von Frauen, die durch Filme der 50er und 60er Jahre geprägt sind, fotografisch nachstellt. Shahram Entekhabis und Cindy Shermans Arbeiten unterscheiden sich neben den eingesetzten Medien jedoch durch das Geschlecht, den historischen Kontext sowie die ethnische und kulturelle Verortung. Die Bilder, die Entekhabi für die Figur des Migranten verwendet, haben eine symbolische Wirkung und sind im deutschen Kulturraum verwurzelt. Wenn der Künstler etwa in England oder Frankreich ebenso lange gelebt hätte wie in Deutschland und seine Arbeit an einer Figur des Migranten realisieren würde, so wäre wahrscheinlich diese Figur jeweils anders ethnisch codiert. Dadurch macht er gleichzeitig seine Positionierung als Insider und Outsider einer Gesellschaft sichtbar, die er in seinem realen Leben als Migrant aus dem Mittleren Osten, der seit über 20 Jahren in Deutschland lebt, häufig erfährt. Es vermischen sich dadurch die Perspektiven einer kulturell mehrfach codierten Identität, die in unserer globalisierten Welt immer aktueller wird. In diesem Sinne ist zu hoffen, dass Shahram Entekhabis Arbeit an der Figur des Migranten noch viele Fortsetzungen und Ausdifferenzierungen erfährt.

Text: Doris Berger
Senior Director of Curatorial Affairs of the Academy Museum of Motion Pictures Dolores Denaro, Los Angeles, California, USA

Inspired by Martha Rosler’s video “Semiotics of the Kitchen” (1975, b/w video, 7 min), in which the artist demonstrates the function of kitchen equipment wearing a gloomy, almost aggressive facial expression and using interpretative hand motions, some of which reveal quite other contexts of meaning.

For basic information, compare DOMiT, Documentation Centre and Museum on Migration in Germany e.V.,

“Film”, direction: Alan Schneider, USA 1965, screenplay: Samuel Beckett. The protagonist is played by Buster Keaton, who attempts to evade observation. This proves particularly difficult, inasmuch as “to be is to be seen”. The 20-minute, black and white film requires very little in the way of a soundtrack.